Nicht nur im Projekt Neubau Therme hören wir immer wieder von VgV-Verfahren. Die komplexen Zusammenhänge im Vergaberecht möchten wir gerne im Folgenden näher beschreiben. Dazu haben wir ein Interview mit Andreas Reichelt geführt, der bei Hitzler Ingenieure als Syndikusrechtsanwalt für Vergabeverfahren zuständig ist. Er betreut aktuell im Zuge des Neubaus der Therme Oberstdorf zusammen mit den Kurbetrieben die drei europaweiten VgV-Verfahren der Fachplaner HLS (Heizung, Lüftung, Sanitär), ELT (Elektrotechnik) und TWP (Tragwerksplanung).
Kurbetriebe:
Herr Reichelt, Sie sind bei Hitzler Ingenieure als Syndikusrechtsanwalt für Vergabeverfahren mit dem Schwerpunkt Planungsleistungen zuständig und begleiten auch uns in dieser komplexen Aufgabenstellung.
Wofür steht VgV?
Hinter dem Kürzel VgV verbirgt sich die „Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge“, kurz Vergabeverordnung. Diese setzt auf nationaler Ebene die europäische Richtlinie 2014/24/EU um.
Wer muss die VgV anwenden?
Anzuwenden ist die VgV von allen öffentlichen Auftraggebern. Wer öffentlicher Auftraggeber ist, wird wiederum im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) definiert.
Wann ist die VgV anzuwenden?
Grundsätzlich ist die VgV für alle öffentlichen Aufträge, aber auch für Wettbewerbe durch öffentliche Auftraggeber anzuwenden, die über den jeweiligen Schwellenwerten der eben genannten Richtlinie liegen. Diese Schwellenwerte werden alle zwei Jahre von der EU-Kommission überprüft und gegebenenfalls angepasst.
Sind damit also weitere Gesetzte zu berücksichtigen?
Ja, es gibt zahlreiche Vorschriften, die – je nach Art des zu vergebenden Auftrags – zu berücksichtigen sind. Zudem entwickelt sich das Vergaberecht gerade auch mit Blick auf die Digitalisierung stetig weiter. So ist die damalige Vergabeordnung für freiberufliche Leistungen, bekannt als VOF, mittlerweile für europaweite Verfahren genauso in der VgV aufgegangen wie die Vergabe- und Vertragsordnung für Liefer- und Dienstleistungen, die VOL. Für Vergaben unterhalb der Schwellenwerte gibt es jetzt die Unterschwellenvergabeverordnung UvGO. Nicht zu vergessen die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, die unter dem Kürzel VOB etabliert ist. Mit all diesen Abkürzungen und den dahinterstehenden Rechtsquellen zu jonglieren, ist unser tägliches Geschäft.
Wie hoch sind die Schwellenwerte?
Für die Marktgemeinde Oberstdorf als öffentlichem Auftraggeber liegen die Schwellenwerte für Liefer- und Dienstleistungsaufträge – zu denen auch die freiberuflichen Leistungen von Architekten und Ingenieuren zählen – aktuell bei 221.000 Euro netto, für Bauleistungen bei 5.548.000 Euro netto. Ab diesen Werten sind europaweite Vergabeverfahren verpflichtet, die mittlerweile übrigens ausschließlich elektronisch abgewickelt werden.
Welche Verfahrensarten gibt es in der VgV?
Dem öffentlichen Auftraggeber stehen in der Regel zwei unterschiedliche Verfahrensmöglichkeiten zur Wahl: das offene und das nicht offene Verfahren. Beiden Verfahren geht ein Teilnahmewettbewerb voraus. Unter bestimmten Voraussetzungen gibt es noch den wettbewerblichen Dialog, die Innovationspartnerschaft und das Verhandlungsverfahren mit oder ohne Teilnahmewettbewerb.
Für die Fachplanungsleistungen zum Neubau der Therme haben die Kurbetriebe Oberstdorf ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb gewählt. Wie ist der Ablauf eines solchen Verfahrens?
Die VgV sieht vor, dass Architekten- und Ingenieurleistungen, die in den drei laufenden Oberstdorfer Verfahren zum Tragen kommen, in der Regel im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vergeben werden. Nach der europaweiten Bekanntmachung des Vergabeverfahrens kann jedes interessierte Unternehmen einen Teilnahmeantrag abgeben. Mit dem Teilnahmeantrag übermitteln die Unternehmen die vom öffentlichen Auftraggeber geforderten Informationen für die Prüfung ihrer Eignung. Nur diejenigen Unternehmen, die vom öffentlichen Auftraggeber nach Prüfung der übermittelten Informationen dazu aufgefordert werden, können ein Angebot einreichen. Der öffentliche Auftraggeber kann die Zahl geeigneter Bewerber, die nach dem Teilnahmewettbewerb zur Angebotsabgabe aufgefordert werden, begrenzen.
Der Ablauf ist streng geregelt und sieht gesetzlich festgelegte Fristen vor. Die Vergabeunterlagen sind sehr umfänglich und bilden neben der detaillierten Aufgabenstellung auch die Wertungskriterien und die Vertragskonditionen ab. Wenn die Unterlagen vollständig sind kann die europaweite Ausschreibung veröffentlicht werden. Der mehrmonatige Ablauf stellt sich dann üblicherweise wie folgt dar:
1. Veröffentlichung der Bekanntmachung im europäischen Amtsblatt Tenders Electronic Daily
2. Bewerbungszeitraum 30 Tage
3. Vorauswertung der Teilnahmeanträge
4. Aufforderung zur Abgabe eines Erstangebots
5. Zeitraum zur Kalkulation/Erstellung des Erstangebots mindestens 25 Tage
6. Auswertung der Erstangebote und Einladung der Bieter zum Verhandlungsgespräch
7. Verhandlungsgespräche
8. Aufforderung zur Einreichung des endgültigen Angebots
9. Zeitraum zur Kalkulation/Erstellung des endgültigen Angebots
10. Auswertung der endgültigen Angebote
11. abschließende Vergabedokumentation und Vergabeempfehlung
12. Vergabebeschluss des Marktgemeinderats
13. Information der unterlegenen Bewerber und Bieter
14. „Stillhaltefrist“ vor Zuschlagserteilung 10 Tage
15. Zuschlagserteilung
Wie Sie sehen, ein sehr aufwändiger, zeitintensiver und langwieriger Prozess, der zudem hohe inhaltliche und rechtliche Ansprüche stellt. Er gewährleistet aber ein rechtssicheres Verfahren und einen ergebnisoffenen Wettbewerb zwischen den Bewerbern und Bietern. Ziel ist immer, den Leistungspartner zu finden, der am besten Ihre individuelle Aufgabenstellung erfüllt.
Und wie kommt es dann zur Entscheidung des Auftraggebers?
Die Entscheidung ergibt sich aus dem Verhandlungsgespräch und der Abgabe des endgültigen Angebots. Die Bieter müssen im Verhandlungsgespräch regelmäßig Maßnahmen zur Sicherstellung der Projektziele bezüglich Qualitäten und Quantitäten, Kosten und Terminen darstellen. Weiterhin werden die Projektanalyse und das Honorarangebot bewertet. Aus dieser Aufzählung können Sie sehen, dass es gerade bei der Vergabe von Planungsleistungen längst nicht nur um das Honorar geht, sondern großer Wert auf die Qualität der Leistung gelegt wird.
Anhand einer Punktevergabe durch das Wertungsgremium ergibt sich schließlich eine Vergabeempfehlung, die durch Beschluss des Marktgemeinderats zur Auftragsvergabe führt. Den Zuschlag wird letztlich derjenige Bieter erhalten, der das Angebot mit dem besten Preis-Leistungsverhältnis, also das wirtschaftlichste Angebot vorgelegt hat. Und das wirtschaftlichste Angebot ist eben nicht zwangsläufig das billigste Angebot. Auch wenn diese beiden Attribute gern vermischt oder gar verwechselt werden – diese Unterscheidung ist im Vergaberecht essenziell.
Was reizt Sie persönlich am Vergaberecht?
Wir sind uns bewusst, dass wir mit unserem fünfköpfigen interdisziplinären Vergabeteam einen wesentlichen Grundstein für den Projekterfolg legen. Dieser Verantwortung, auf der Grundlage des Vergaberechts ein professionelles Planungsteam von Architekten und Ingenieuren für millionenschwere Projekte unserer öffentlichen Auftraggeber zusammenzustellen, stellen wir uns. Viele verdrehen beim Stichwort „Vergaberecht“ die Augen, weil sie vorrangig den Aufwand und die formalen Anforderungen sehen; das ist nicht von der Hand zu weisen. Für uns jedoch stehen die Gestaltungsmöglichkeiten und Chancen eines Vergabeverfahrens im Vordergrund. Diese loten wir immer wieder neu aus und betreuen so jedes Jahr rund 120 Verfahren zur Vergabe von Planungsleistungen – von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung.
Eine große Herausforderung für öffentliche Auftraggeber mit teilweise hohen Hürden. Hier greifen wir gerne auf externe Fachkompetenz zurück. Vielen Dank also an Herrn Reichelt und sein Team der Hitzler Ingenieure.